Zu viel, Hilda

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Die ersten vier Bände der Comics über Hilda von Luke Pearson.

Weil langer Text: Beschreibung der Hauptpersonen, Erzählung der Handlung von “Hilda und der Troll”, Kritik der Erzählweise und des Layouts mit Fokus auf die graphische Gestaltung, Fazit: Für Kinder gedacht, nicht für Kinder gemacht.

Manchmal fragen mich Menschen um Empfehlungen für Kindercomics. Schwierig! Ab ca. 12 wüsste ich einiges, aber darunter? Vor einiger Zeit las ich eine nette Empfehlung für die Comics von Luke Pearson, mit Hilda als Hauptfigur und ich speicherte die Empfehlung unter “Muss ich irgendwann mal lesen” ab. Jetzt habe ich mir vier der Hilda-Comics angesehen: “Hilda und der Troll”, “Hilda und der Mitternachtsriese”, “Hilda und die Vogelparade” und “Hilda und der schwarze Hund”.

Nun. Ich bin nicht ganz so beeindruckt wie ich es mir erhoffte. Ja, Hilda ist die Hauptfigur, sie lebt in einer skandinavischen Fantasiewelt mit … “Mama”. Ihre Mutter kriegt nie einen Namen, sie bleibt immer “Mama” und als sie in “Hilda und die Vogelparade” verloren geht, sagt sich Hilda: “Hier gibt es sicher Hunderte von Personen, die Mama heißen.”Hm. Was ist “Mama” noch? Nach dem Umzug in die Stadt im 3 und 4 Band vor allem überbesorgt. Sie ist … Architektin? Technische Zeichnerin? In “Hilda und der schwarze Hund” gibt es ein Bild von ihr im Talar, mit einer Zeugnisrolle, aber ob das von der Highschool oder einer Uni ist, bleibt unklar. Hildas Mutter trinkt gerne Tee, strickt manchmal Pullover für Hilda, fährt Auto und war bei den Pfadfinder_innen. Hm.

Hilda selbst ist abenteuerlustig, freundet sich schnell mit allen möglichen magischen Wesen an und hat einen Hirschkatzeneichhörnchenfuchs namens Hörnchen als Haustier. Sie zeltet und zeichnet gerne, mag Tiere, kann aber auch ablehnend und widerborstig sein.

Die meisten anderen Figuren sind in der deutschen Übersetzung männlich, auch als Hilda und ihre Mutter in die Stadt ziehen. Dort gibt es dann schon andere weiblich lesbare Figuren und auch Kinder und Erwachsene of Color, manche haben sogar Namen. Aber Hilda freundet sich nicht mit anderen Kindern an, sondern mit magischen Wesen, die eben aufgrund der Artikel oder auch ihrer Namen männlich sind. Zum Beispiel geht es in “Hilda und der schwarze Hund” auch um Hausgeister, sogenannte “Nisse”, die alle Tontu heißen und männlich sind, auch wenn es auch weibliche Hausgeister zu geben scheint. Die trifft Hilda aber nie. Wenigstens kommt nur in “Hilda und der Mitternachtsriese” eine Romanze zwischen Ries_innen vor, aber es ist eine Heteroromanze.

Als ich mich in der Zweigstelle der Büchereien Wien erkundigte, ob sie die Hilda-Comics hätten, sagten sie, sie stünden bei den Comics für Erwachsene, denn die Kinder hätten sie nicht so spannend gefunden und kaum ausgeliehen. Nachdem ich alle Bände gelesen hatte, fiel mir auch auf, warum das so sein könnte:  In jedem Band finden parallel mehrere Geschichten statt. Die Handlung springt oft unvermittelt hin und her, ohne zu einer befriedigenden Erklärung zu führen. Manche der Handlungsstränge werden ausführlicher aufgelöst, andere nicht. Und es werden viele interessante Details angerissen, was aber bei dem Hin- und Hergespringe einfach nur ablenkt.

Was ich damit meine? Zum Beispiel beginnt “Hilda und der Troll” damit, dass Hilda über Trolle liest. Dann will sie zelten gehen, weil es regnen wird. Wiederholt kommt ein Holzmännchen in ihr Haus und legt sich ans Feuer. Hilda verbringt die Nacht im Zelt, es ist nicht so toll, obwohl sie sich auf den Regen gefreut hat. Am nächsten Tag geht sie hinaus, um Felsen zu zeichnen. Sie sieht einen Meergeist, der sich im Fluss verirrt hat. Dann findet sie einen Trollfelsen und bindet dem Felsen eine Glocke um die Nase, damit sie hört, wann der Felsen aufwacht. Dann schläft sie ein. Als sie aufwacht, bimmelt die Glocke und sie muss davonrennen.

Ein Riese, der sich nicht auskennt, taucht auf und verschwindet wieder. Hilda kommt zu einem schicken Haus, das sich als das Haus des Holzmännchens herausstellt. Offensichtlich besucht das Holzmännchen Hildas Haus, weil es sich in seinem Haus zu vieler Dinge bewusst ist und sich nicht wohlfühlen kann, sagt es. Ende dieser Erklärung. Das Holzmännchen begleitet Hilda nachhause, doch in der Nacht wartet der Troll draußen, der sich die Glocke nicht abnehmen kann und sehr unter dem Gebimmel leidet. Statt Hilda zu fressen, hat er ihr ihren Skizzenblock mitgebracht, nur ist der von der Spucke durchgeweicht. Am Ende zeltet Hilda wieder glücklich im Regen.

Das ist einfach zu viel. Zu viel sogar für mich. Die Szenen sind zu kurz, um sich wirklich darauf einzulassen, jedes Mal, wenn sich eine Lösung eines Handlungsstrangs anbahnt, springt die Handlung zu einem anderen Strang. Das erfordert Konzentration und macht das Lesen anstrengend. So werde ich nicht in die Geschichte hineingezogen – die Comics fließen nicht. Ich finde, es wäre klüger gewesen, die Geschichten jeweils aufzuteilen und halt in einem Band drei Geschichten hintereinander statt nebeneinander zu erzählen. Der verirrte Riese und der Meergeist könnten in einem Comic, der jeweils eine oder eine halbe Seite füllt, genauer dargestellt werden und vielleicht die Geschichten von einander trennen. Leider sind alle vier Bände so sprunghaft.

Die Erzählweise wäre auch nicht so schlimm, wenn Luke Pearson ihr Platz und Ruhe gegeben hätte. Aber auch das Layout und der Zeichenstil tragen zur generellen Unruhe und Dichte der Comics bei. Auf jeder Seite sind unzählige kleine Panels – das sind in Comics die einzelnen Bilder – deren Format sich andauernd ändert. In “Hilda und der Troll” ändert sich an und ab auch die Form der Panels, das nimmt in den folgenden Bänden wenigstens ab.

Konstant bleibt aber, dass die Abfolge der Bilder nicht immer linear ist, d.h., es ist nicht ersichtlich, ob die Panels waagrecht von links nach rechts, senkrecht von oben nach unten, dann links nach rechts, im Uhrzeigersinn oder wie auch immer gelesen werden sollen. Manchmal ist es relativ klar ersichtlich, z.B. wenn sich eine Schüssel mit Essen immer mehr leert, aber öfter ist es unklar. Auch das unterbricht den Lesefluss enorm. Natürlich kann diese Art von Layout auch dazu dienen, eine Szene in Fragmenten darzustellen, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken, aber in den Hilda-Comics wird es vor allem dazu verwendet, um mehr – Text, Handlung, Eindrücke – auf kleineren Flächen unterzubringen.

Auch der Zeichenstil verändert sich von Comicband zu Comicband stark – einmal hat Hildas Mutter Wimpern, dann nicht mehr. Einmal sind die Figuren eckig, dann rund. Hilda hat in “Hilda und der Mitternachtsriese” Sommersprossen, in den Bänden davor und danach aber nicht. Gut, ein_e Zeichner_in kann sich weiterentwickeln bzw. ist ein Stilwechsel auch reizvoll. Aber: Genau wie die Erzählweise, die verschiedenen Formate der Panels, die Nonlinearität des Layouts, der mit zu vielen Details vollgestopfte Zeichenstil und die Scherze, der Sarkasmus und die Nicht-Erklärungen sind das alles sehr fortgeschrittene Comic- bzw. Erzähltechniken. Klar können die auch schon früh erlernt werden – einige früher als andere – aber nicht alles auf einmal, wie in diesen Comics.

Ich kann euch also nur empfehlen, die Hilda-Comics von Luke Pearson eher erst einmal aus der Bücherei oder Bibliothek auszuleihen und an den euch umgebenden Kindern zu testen, bevor ihr sie kauft oder verschenkt. Außer sie gefallen euch selbst, dann nur zu. Ich hätte ehrlich gesagt selbst nicht gedacht, dass ich so viel daran auszusetzen finde. Normalerweise achte ich auch nicht so genau auf Layout, Panels, all das, was ich oben aufgezählt habe – aber ich wollte dem komischen Gefühl das ich hatte auf den Grund gehen. Für mich ist es kein Wunder, dass die Hilda-Comics Erwachsenen besser gefallen – Luke Pearson hat sie für erfahrene Comicleser_innen gestaltet, nicht für Kinder.

… dann fresse ich euch auf!

Eines meiner absoluten Lieblingsbilderbücher – zum Vorlesen, zum Selberlesen, zum Verschenken – ist “Der Tag an dem Louis gefressen wurde” von John Fardell, hier im Bild in der englischen Ausgabe. Es ist ein sehr witziges und dynamisches Buch mit einer technisch begabten und sportlichen großen Schwester und lustigen Monstern.

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Dabei ist die Geschichte simpel: Sarah und Louis sind im Wald unterwegs, da kommt ein Schluckster und – Schluck! – frisst Louis auf! Sarah sammelt nur kurz etwas auf und rast dann dem Schluckster hinterher, dass die Reifen quietschen. Fast hat sie den Schluckster erreicht, als der unglücklicherweise von einem Grabscherix gefressen wird. Das ist ein Vogel, der auf einem Nest im Meer wohnt, also baut Sarah ihr Fahrrad so um, dass es schwimmen kann.

So geht es weiter – jedes Mal, wenn Sarah das aktuelle Monster fast erreicht hat, kommt ein anderes und frisst es. Sarah baut dann jedes Mal ihr Fahrrad um, damit sie sich unter Wasser, mit Windantrieb, auf Stelzen kletternd fortbewegen kann. Schließlich erreicht sie das letzte Monster, ohne dass dieses auch noch gefressen wird und wartet, bis es eingeschlafen ist. Sie klettert in den Bauch des Monsters und findet dort den unverdauten Louis.

Mit Hilfe eines Schluckauf-Frosches, den sie zu Beginn der Geschichte eingesammelt hatte, verschafft Sarah allen Monstern heftiges Bauchzucken, bis sie einander ausspucken. Dann haben alle Monster natürlich großen Hunger und verschwinden erst, als Louis droht, sie aufzufressen. Sarah baut ihr Fahrrad ein letztes Mal um, so dass es fliegen kann und die Geschwister fliegen nachhause.

Vielleicht liegt es daran, dass ich auch eine große Schwester eines kleinen Bruders bin, dass mir das Buch so gefällt, aber es liegt sicher auch daran, dass die Geschichte einfach witzig ist. Es sind Fantasietiere, die sich hier fressen, mit ausgefallenen Namen und vielen Geräuscheffekten. Eigentlich ist es nicht so sehr ein Bilderbuch, sondern ein Comic, es fehlen nur die Sprechblasen. Ich mag auch, dass Sarah ihr Fahrrad jedes Mal so genial umbaut. Am Liebsten mag ich aber, dass das Buch einige feine Details bereithält, die mir erst beim wiederholten Lesen aufgefallen sind. Leider sind die Figuren wiederum weiß und eine kleine Schwester wäre auch ok gewesen.

Das Buch ist wirklich ideal zum Vor- und Selbstlesen, für jede Anzahl von Kindern, von 3 bis 8. Die vielen Geräusche machen das Vorlesen lebendig und die Wiederholungen erschaffen ein Ritual, die Kinder wissen schon was kommt und freuen sich, wenn ihre Vermutung bestätigt wird. Besonders spannend ist auch die Zeichnung, die zeigt, wie Sarah in die Bäuche der Monster steigt, immer weiter hinein. Es eignet sich als letztes Buch in einer Vorlesereihe, da Sarah und Louis am Ende nachhause fliegen, wie die Kinder auch.

Flausch für alle!

Ich habe ja bereits darüber geschrieben, wie schwierig es ist, Tierbücher mit Hauptfiguren zu finden, die nicht männlich sind und euch “Mehr … immer mehr!” vorgestellt. Zu meiner Freude und Überraschung fiel mir vor Kurzem beim Vorlesen in der Zweigstelle der Wiener Büchereien im 17. Bezirk ein reizendes Buch in die Hände, in dem ein Kaninchen die Hauptfigur ist.

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Was Flauschiges!“, geschrieben von Namako Takagi, illustriert von Usa und aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt von Pauline Katz beginnt damit, dass sich ein Kaninchen putzt und ein kleines Flauschwölkchen aus Kaninchenhaaren davonfliegt. Eine Eidechse kommt vorbei und fragt, ob sie das Flauschwölkchen haben könnte – “Na klar!” Sie baut sich daraus ein kuscheliges Bett, während das Kaninchen ein befreundetes Kaninchen herbeiruft, ein graues. Zusammen putzen sie sich, da kommt eine Schlange vorbei …

Und so geht es weiter, mehr Kaninchen werden hinzugerufen, ein Gürteltier und eine Schildkröte kommen vorbei, doch als schließlich ein Elefant vorbeikommt, gibt es ein Problem: So viel Flausch, dass es für ein Elefantenbett reicht, haben die Kaninchen nicht. Also fragen sie mal laut, ob es noch andere Tiere mit Flausch-Haaren gäbe und schon strömen befreundete Tiere herbei. Zusammen putzen sie sich, bis eine riesige Flauschwolke entstanden ist, die nicht nur dem Elefanten, sondern auch seinen zwei Kindern als weiches Bett dienen kann. Flauschkommunismus, sozusagen.

Das generische Maskulinum ist auch diesmal leider stark in Verwendung, dabei ließe es sich so elegant umschiffen. Es gäbe genug Platz, um “Freunde” durch “befreundete Tiere” zu ersetzen oder “Hat noch ein Tier Flausch-Haare?” statt “jemand”, der Text ist relativ kurz. Dafür gibt es viele namentlich genannte Tiere mit weiblichem bzw. sächlichem Artikel, bis auf den Elefanten (Elefantenbullen leben nicht in der Herde, aber hey).

Mich hat – ich sagte es ja schon in der Rezension von “Extra Garn”, Hasen mag ich – sofort das ungeheuer niedliche Kaninchen auf dem Cover angesprochen und die Illustrationen sind alle so hübsch. Das Buch eignet sich gut zum Vorlesen ab 3 Jahren, auch in Gruppen, das habe ich gleich nach dem Durchlesen getestet, bis ca. 6 Jahre. Nachdem es mit dem Elefanten samt Kindern im Flauschbett endet, ist es auch eine gute Schlafgeschichte. Ich werde nun weiter testen und die Niblinge kriegen auch ein Exemplar.

Bestrickender Widerstand

Es gibt so ein paar Dinge, auf die ich bei Bilderbüchern besonders anspreche, nämlich unter anderem auf Katzen, Hasen, Schafe und Stricken. “Extra Garn” von Mac Barnett, illustriert von Jon Klassen, ist ein besonders schönes Strickbilderbuch, von Anfang bis Ende. Auf der Verlagsseite gibt es einen guten Blick ins Buch.

20160902_175056 Die Hauptfigur in “Extra Garn” ist Annabelle, die in einer tristen, schwarz-weißen Stadt lebt. Eines Tages findet sie eine kleine Truhe mit Stricknadeln und buntem Garn und sie strickt sich einen Pullover und dann einen für ihren Hund, denn es ist immer noch Garn da. Als sie spazieren geht, trifft sie Nico, der sie auslacht, weil er eifersüchtig auf ihren bunten Pulli ist. Also strickt Annabelle einen Pulli für ihn und seinen Hund und es ist immer noch Garn da. In der Schule drehen sich alle Kinder nach ihr um und der Lehrer maßregelt Annabelle, weil sie die Klasse ablenkt. Also beschließt sie, Pullis für alle Kinder zu stricken, obwohl der Lehrer meint, das würde sie nie schaffen. Aber Annabelle schafft es.

Und so geht es weiter – Annabelle bestrickt alle Menschen, dann alle Tiere und dann schließlich die Häuser, Autos, Briefkästen usw. Die Stadt wird ganz bunt und Annabelles Garn erregt immer mehr Aufmerksamkeit. Ein Erzherzog kommt und will die Truhe kaufen, doch Annabelle weigert sich. Also lässt der Erzherzog die Truhe stehlen. Als er zuhause ankommt, muss er aber feststellen, dass die Truhe leer ist und er wirft sie wütend aus dem Fenster. Dabei verflucht er Annabelle, dass sie nie glücklich sein werde. Die Truhe überquert das Meer und findet ihren Weg zurück zu Annabelle, die munter weiterstrickt und eben doch glücklich ist.

Und genau das mag ich an dem Buch: Annabelle lässt sich nicht beirren, dreinreden oder ablenken, sondern sie macht einfach ihr Ding, nach und nach, bis sie die Stadt komplett verändert hat. Wie im Alltag auch, sind es vor allem als Jungen bzw. Männer lesbare Figuren, die Annabelle sagen, sie würde nicht schaffen, so viel zu stricken, aber Annabelle macht einfach weiter. Und auch die Vorgaben des Erzherogs erfüllt sie schlicht nicht – weder verkauft sie ihr Garn, auch nicht um 10 Millionen Dukaten, noch ist sie ihr Leben lang unglücklich. Ohne den Konflikt mit dem Erzherzog wäre “Extra Garn” ein reines Aufzählbuch, aber so erhält es zum Ende hin noch mehr Dynamik.

Es gibt durchaus einige Kritikpunkte – z.B. sind alle Figuren in dem Buch weiß. Auch das Bestricken von Häusern, Bäumen, Briefkästen, Fahrzeugen als Anzeichen von Gentrifizierung kann kritisch diskutiert werden, sowie der Wert der Handarbeit generell, denn Annabelle verlangt für ihre Arbeit keine Gegenleistung. Auch gibt es viel mehr männliche Figuren als weibliche und das generische Maskulinum hätte durchaus vermieden werden können. Diskutierbar ist auch, ob der Erzherzog mit Interesse an Mode als queerer Bösewicht stereotypisiert wird oder nicht – ich finde nicht, aber diskutierbar ist es.

“Extra Garn” ist eigentlich ein recht langes Buch, erscheint aber nicht so, denn es gibt nicht übermäßig viel Text. Die Bilder ergänzen, was der Text nicht explizit aufzählt und so eignet es sich zum Vorlesen in größeren Gruppen schon für sehr kleine Kinder, also ab ca. 3 1/2, dank der dynamischen Geschichte aber bis ca. 7 oder sogar 8. Was die Illustrationen angeht: Jon Klassen ist ein bekannter Kinderbuchautor und Illustrator und hat einen eigenen Stil, der besonders an den Tieren gut erkennbar ist. Seine holzschnittartigen Illustrationen sind klar und nicht zu überfrachtet, aber trotzdem mit genug Details versehen, dass sie interessant bleiben. Obwohl das Buch immer bunter wird, je länger Annabelle strickt, bleibt die Buntheit der Wolle doch durch den vielen Weißraum speziell und einzigartig.

Alles in Allem: Große Empfehlung.

Schafbuch, Schlafbuch

Bei meinen zweisprachigen Geschichtenzeiten lese ich auch mitunter Bücher vor, die eigentlich zum Einschlafen gedacht sind. Aber ich mag Schlafbücher und Schafbücher und “Das 108. Schaf” von Ayano Imai kombiniert die zwei Elemente so schön, dass ich es zu jeder Tageszeit vorlesen könnte.

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In dem Buch geht es um Nimitz, die plötzlich nicht einschlafen kann. Sie versucht alles und verlegt sich dann aufs Schafe zählen, aber das funktioniert auch nicht. Sie kommt bis zum 107. Schaf, aber statt dem 108. Schaf hört sie nur einen dumpfen Knall. Der Kopfteil des Bettes ist nämlich sehr hoch und das 108. Schaf kann nicht so hoch springen.

Zuerst beschweren sich die anderen Schafe, aber Nimitz hält sie dazu an, mit ihr und dem 108. Schaf verschiedene Lösungswege auszuprobieren, damit das 108. Schaf über ihr Bett hüpfen kann. Erst funktioniert nichts, dann holt Nimitz ihren Werkzeugkasten und sägt ein Loch in den Kopfteil des Bettes, durch das das 108. Schaf springen kann. Dann schlafen alle gemeinsam auf dem und um das Bett. Am Ende des Buches können die Vor_leser_innen selbst Schafe zählen und das 108. Schaf suchen.

Der Zeichenstil ist sanft und die Illustrationen sind in schwarz-weiß mit dunkelroten Akzenten gehalten, auf einem leicht geriffelten hellgelben Papier. Durch das große Format lässt sich das Buch gut gemeinsam lesen und die Seiten sind nicht zu vollgepackt, sondern die Bilder zeigen das Wesentliche. Durch die Mimik der Figuren kommt deutlich durch, was für ein Problem es für Nimitz ist, nicht einschlafen zu können und für das 108. Schaf, nicht so hoch springen zu können.

Ich mag diese Einschlafgeschichte, in der es um den Abbau von Barrieren geht, mit einer japanisch-amerikanischen Mädchenfigur, die unaufgeregt mit Sägen hantiert. Zwar ist das 108. Schaf im Englischen ein “he”, im Deutschen aber nicht. Die Eltern von Nimitz treten nicht in Erscheinung, sie allein wählt aus, wie sie einschlafen möchte und was sie dafür benötigt. Das ist ziemlich cool.

Dadurch dass der Text nicht zu lang ist, eignet sich das Buch ausgezeichnet zum Vorlesen auch für größere Gruppen von Kindern. Die deutschen Ausgaben sind in gebrauchtem Zustand noch recht günstig erhältlich, ich habe die englische, weil ich Bücher gerne im Original lese, aber Nibling 1 hat sie auf Deutsch gekriegt.

Von Tieren und vom Teilen: Mehr … immer mehr!

Was für ein Problem könnte ich mit Bilderbüchern mit Tieren haben? Tiere sind doch großartig? Ja. Aber die beliebtesten Bilderbuchtiere sind der Bär, der Fuchs, der Hase, der Wolf, der Hund, der Affe, der Elefant, der Tiger, der Löwe, der Esel, der Igel … merkt ihr was? Gut, es gibt die Katze, aber oft ist das dann doch ein Kater, genauso bei der Maus, die dann doch oft ein Mäuserich ist. Das Pferd, das Meerschwein, das Nilpferd, das Zebra, das Eichhörnchen gibt es auch, aber lange nicht so oft. Daher schaue ich auch bei Tierbüchern darauf, dass ich Bücher mit Tieren erwische, die einen weiblichen Artikel haben bzw. weibliche Hauptfiguren.

Mehr immer mehr I C SpringmanEines meiner Lieblingsbücher ist dabei “Mehr … immer mehr!” von der Autorin I.C. Springman mit Illustrationen von Brian Lies, auf Deutsch erschienen im Verlag annette betz. Darin geht es um eine Elster, die mit einer Maus befreundet ist. Am Anfang des Buches hat die Elster außer ihrem Nest nichts, also schenkt ihr die Maus eine Murmel. Nun hat die Elster etwas. Zufällig findet sie weitere Gegenstände – einen roten Legostein, eine Schillingmünze – und an dieser Stelle hatte mich das Buch. Ich wünsche mir keine Rückkehr zum Schilling und finde auch die Münze nicht besonders schön (die mit den Edelweiß ist es), aber es war trotzdem irgendwie ein starkes Gefühl, sie nach mittlerweile 15 Jahren in einem Kinderbuch wiederzusehen.

Die Elster hat nun einiges, aber sie beginnt mehr und mehr und immer mehr Gegenstände zu sammeln. Dadurch wird das Buch immer mehr zum Wimmelbuch, allerdings ohne erklärende Texte. Der Text bleibt ganz sparsam und beschreibt immer nur, wieviel die Elster nun hat. Sie baut neue Nester, um ihre Sammlung unterzubringen und schließlich hat sie zu viel – die Äste des Baumes biegen sich unter der Last. Die vielen Gegenstände sind dabei so schön gezeichnet, dass alle elsterhaften Menschen, wie z.B. ich selbst, sofort etliches davon an sich raffen möchten. Schließlich reicht es der Maus – “Genug!” schreit sie und der Ast auf dem sich Elster und Maus unterhielten bricht.

Die Elster liegt unter ihrer Sammlung begraben. Die Maus ruft um Hilfe und sie und viele andere Mäuse tragen die Sammlung gemeinsam weg, bis die Elster wieder zum Vorschein kommt. Alles wird verschenkt, auch an ein Eichhörnchen, bis schließlich die Elster und die Maus je ein Stück haben – die Murmel von ganz am Anfang und eine Schachfigur. “Genug?” fragt das Buch. “Ja, genug.”

In meinen Elsterfingern kribbelt es und das Buch provoziert mich manchmal ein wenig – sind Sammlungen so verwerflich? Trotzdem ist es ein gutes Buch um zu diskutieren, wieviel wir eigentlich brauchen und ob Teilen nicht besser wäre. Durch die Masse an Gegenständen und den sparsamen Text ist es ein Buch zum Ansehen und viel dazu reden. Kinder können die Zeichnungen genau betrachten, Gegenstände suchen und sich z.B. darüber unterhalten, welchen sie sich aussuchen würden. Ich habe es schon in einer kleinen Gruppe vorgelesen, ich würde ab ca. 4 Jahren bis ca. 6 Jahre einschätzen, danach ist es immer noch schön zum zu zweit oder alleine betrachten.

Gegensätzliches Nilpferd

Beim letzten Vorlesen in Liesing fand ich dort bei den englischen Büchern eines für 2-4jährige, das mich sehr beeindruckt und belustigt hat: Hippoposites von der französischen Grafikerin, Illustratorin und Autorin Janik Coat, im französischen Original “Mon Hippopotame”. Auf Deutsch heißt es “Mein Hippo kann alles”, was mir ein wenig Bauchschmerzen verursacht. Ich werde versuchen, die deutsche Version ebenfalls anzuschauen und dann die Buchempfehlung ergänzen.

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Hippoposites ist auf Karton gedruckt, hat 38 Seiten und zeigt Illustrationen von Gegensätzen, die grafisch aufbereitet werden, immer anhand eines Nilpferds, das anscheinend Popov heißt. Im Buch selbst hat es keinen Namen. Was mich daran so fasziniert und gefreut hat – die Gegensätze werden nicht klischeehaft sondern entgegen der Klischees dargestellt, hier zum Beispiel “dünn” und “dick”. Für “leicht” befindet sich das Nilpferd im Korb eines Heißluftballons, für “schwer” blubbert es unter Wasser (auch wenn das nicht ganz stimmt, Nilpferde können ja schwimmen und tauchen und gehen nicht einfach unter, aber ok).

thin/thick page from Hippoposites by Janik Coat

Oder hier positiv und negativ. Ähnlich ist es bei “voll” und “leer”, wo auch die Form des Nilpferds mit Farbe gefüllt ist – für “voll” – und eine weiße Leerstelle, die noch dazu aus der obersten Schicht Karton ausgeschnitten ist – für “leer”.

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Hier noch ein Beispiel für gepunktet und gestreift:

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Ich finde es ausgesprochen charmant und schön, aber für kleine Kinder ist es zum Teil anspruchsvoll, wie auch Sigrid Tinz in ihrer Kritik moniert. Anscheinend wird/könnte Kindern dabei fad werden? Mangels Test am lebenden Objekt würde ich sagen: Kommt auf die begleitende Erzählung an.

Manche Gegensätze sind unmittelbar begreifbar, andere brauchen eine Erklärung und vielleicht noch begleitende Beispiele, damit ganz klar wird, was ein Wort bedeutet, aber ich finde das gut.Es gibt eine Menge Kartonbücher, die weit weniger Interaktion erfordern und einfachere Konzepte vermitteln.

Janik Coat hat noch andere Bücher veröffentlicht, von denen ich zumindest “Ich bin nicht wie die anderen” schon schnell durchgeblättert und auch sehr nett gefunden habe (ja, es gibt auch weibliche Tiere darin, die hat der Knesebeck Verlag in der Beschreibung ausgelassen). Und ihr Tier-ABC ist reizend, wenn es auch nur auf Französisch funktioniert.

Waschanleitung für Wollmammuts

Wie man ein Wollmammut wäscht von Michelle Robinson und Kate Hindley mit KatzeEines der Bücher, das ich erst vor Kurzem, aber begeistert, in mein Vorleserepertoire aufgenommen habe, ist “Wie man ein Wollmammut wäscht” von Michelle Robinson und Kate Hindley, übersetzt von Andreas Steinhöfel, erschienen 2015 im Verlag Gerstenberg. Es gefällt mir tatsächlich so gut, dass ich es auch Nibling2 weiterschenke.

Das Buch enthält Schritt für Schritt eine Anleitung, wie ein Hauswollmammut zu waschen ist und zeigt die Auswirkungen der Schritte in den Illustrationen. Das Thema des Buches kann als “ein großes Projekt angehen” zusammengefasst werden, wie Sue Heavenrich in ihrem Blogpost darüber schreibt, in dem sie auch Ideen für weiterführende Aktivitäten aufführt.

Es zeigt sich aber schon beim ersten Schritt der Anleitung – “Befülle die Badewanne.” – dass nie alles nach Plan verläuft, denn: “Falls dein Mammut gerade Durst hat, könnte das eine Weile dauern.” Verschiedene Ansätze, wie das Mammut in die Wanne zu kriegen ist, werden gezeigt, dann beginnt das Badevergnügen.

Als aber Shampoo in die Augen des Mammuts kommt, rennt es davon und klettert auf einen Baum und so bietet dann der 8. Schritt eine Anleitung, wie ein Wollmammut vom Baum zu kriegen ist, nämlich mit einem stabilen Trampolin. Das Mammut springt daneben, landet im Gatsch und danach braucht auch das Kind ein Bad, also gehen sie gemeinsam in die Wanne. Kooperation statt Badezwang bringt dann endlich Frieden in die Wanne – und danach wird gekuschelt. Diese Botschaft gefällt mir auch besonders an dem Buch. Ich finde, es regt auch zum eigenen Badespaß und zum Nachdenken über den Umgang mit Haustieren (bitte nicht baden) an.

So wie die Anleitung selbst beginnen auch die Illustrationen recht technisch, mit Diagrammen und Abb.1, 2, 3 usw., doch je dynamischer die Handlung wird, desto dynamischer werden auch die Bilder. Der Fokus liegt dabei auf Kind und Wollmammut, mit einigen netten Details am Rande, aber nicht so viele, dass von der Handlung abgelenkt wird.

Das Kind ist durch Wimpern und ca. schulterlange Haare als Mädchen lesbar, hat aber keinen Namen und ist ansonsten mit Regenjacke, Jeans und Gummistiefeln ausgerüstet. Bei der Szene, in der das Kind versucht, das Mammut in die Wanne zu kriegen, nimmt es eine Monstermaske (auch mit Wimpern <3), ein Skateboard und einen Schwerlastkran zu Hilfe, es gelingt dann schließlich mit Törtchen.

Wenn ich etwas auszusetzen habe, dann an der Sprache. Leider gibt es zwei Stellen im generischen Maskulinum, die sehr einfach hätten vermieden werden können, z.B. im Titel “du” statt “man”, ansonsten wird die_der Leser_in direkt mit “du” angesprochen. In der Szene in der der “Dickwanst” des Mammuts gewaschen wird und zur Vorsicht wegen Kitzeligkeit aufgerufen wird, hätte ich mir “dicker Bauch” gewünscht und so ersetze ich das auch, wenn ich vorlese.

Durch die Kürze und die plakativen Bilder eignet sich das Buch sehr gut zum Vorlesen für Kindergruppen bis 9-10 Jahre bzw. bei weniger Kindern bis 6-7 Jahre würde ich sagen, bzw. natürlich zum selbst Lesen lernen/üben sehr gut. Aber haltet Infos über Permaforst und das Klonen von Mammuts bereit, falls Fragen kommen, wie denn ein Wollmammut als Haustier überhaupt möglich wäre.

Für neue Kinder- und Jugendliteratur jenseits der Gendernormen

Die Büchereien Wien haben auf Twitter folgenden Artikel getweetet: “Jungs voran” von Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ich nehm den mal ein bisschen auseinander.

Erstens mal nicht zu vergessen, dass sich nicht alle den Kauf von Büchern leisten können, dass Kinder lesender Eltern mehr lesen als Kinder mit Eltern, die nicht lesen, Unterstützung aus dem Elternhaus, die Rarität von in der Elternsprache erhältlichen Kinderbüchern, wenn diese Sprache nicht Deutsch ist. Und dass Lesen als Aktivität leider auch gegendert ist: Mehr Mädchen* als Buben* – obwohl historisch nicht so und leider manchmal immer noch nicht so, bzw. Wertungsunterschiede zwischen “Mädchen*-” und “Buben*literatur”, genauso wie bei “Frauen*-” und “Männer*literatur und bei der Literaturkritik. Und sicher noch viel mehr. Aber ich schaue jetzt einfach nur einmal auf diesen Artikel.

Ich liebe ja schon die Bezeichnung “Patentantenbücher”. So werden Sachbücher bezeichnet, die angeblich bei den beschenkten Kindern zunächst nicht so gut ankommen. Und da muss ja unbedingt “Patentante” genommen werden, nicht etwa “Patenbücher” (um dieses generische Maskulinum mal besser zu nutzen) oder “Verwandtengeschenke” oder so. Außerdem sind Sachbücher bei Kindern beliebt, weil sie bei der Entdeckung und Einordnung der Welt behilflich sind. Wird das Buch nicht geliebt, liegt das nicht nur am Kind, sondern auch am Buch. Gestehen wir Kindern bitte ihre individuellen Zugänge und eigenen Urteile zu und auch die Möglichkeit, Urteile zu revidieren.

Im nächsten Absatz geht es um den Buchmarkt. Ich finde sehr lustig, dass der Autor hier annimmt, dass Kinder und Jugendliche nur Kinder- und Jugendliteratur lesen und dass diese nur von den Eltern bzw. Großeltern gekauft und zur Verfügung gestellt wird. Wenn Kinder und Jugendliche freien Zugang zu Literatur haben, lesen sie auch das, wozu sie Zugang haben. Gibt es also Bücher im Haus bzw. wird die öffentliche Bibliothek besucht und haben Kinder und Jugendliche freien Zugang und Lesefreiheit, dann funktioniert diese Trennung nicht.

Dass der Markt für Kinderbuchliteratur konservativ ist – volle Zustimmung. Leider viel zu konservativ. Siehe die Debatten um Rassismus in Kinderbüchern – und Sexismus, Klassismus, Ableismus, etc., die wir auch führen oder führen sollten. Zu oft wird ohne nochmalige Überprüfung unreflektiert tradiert, was in der eigenen Kindheit und Jugend für gut befunden wurde. Andererseits sind nicht alle “alten” Bücher per se schlecht. Diese Debatte ist eine wichtige und soll mit vielen Stimmen geführt werden.

Sehe ich mir die Zahlen an, die der Autor aus der Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Arbeitsgemeinschaft Jugendbuchverlage zitiert, scheint es so (ohne jetzt die Studie genau zu kennen), als würden Buben* jetzt mehr Bücher kaufen. Gut so.

Lustig aber die Annahme, dass Kinder und Jugendliche “früher” nie selbst bestimmen konnten, was sie lesen. Leider zeigen die Leseverbote der Vergangenheit sowohl, dass bestimmte Lektüre verboten oder verpönt war – aber gleichzeitig zeigen sie auch, dass und was gelesen wurde (so wie viele Aktivitäten nur durch ihr Aufscheinen in Gesetzesbüchern und Strafakten aufscheinen). Gegen die Leseverbote gab es auch immer Widerstand. Tatsächliche Lesefreiheit ist wohl trotzdem rarer gewesen und Zugang zu Lektüre auch. Allerdings gibt es eine lange orale Tradition von Geschichten und Liedern, zu denen der Zugang ähnlich schwer kontrollierbar ist wie der Zugang zu Lektüre.

Aber kommen wir zum Knackpunkt des Artikels aus meiner Sicht. Warum kaufen denn die Jungen* laut dem Journalisten mehr Bücher?

“Vielleicht, weil sie mit Titeln wie „Gregs Tagebuch“, den allgegenwärtigen Piratengeschichten oder auch den realistischen Jugendbüchern mit männlichen Hauptfiguren endlich ein breites Angebot finden, das sie interessiert.”

Und da muss ich dann vollends lachen. Eigentlich ist das ein Satz, den ich lieber Literaturwissenschaftler*innen überlassen würde, die wissen mehr als ich (mischt euch bitte ein! Ich lerne gerne was!)

Jedenfalls hatte/habe ich den Eindruck, dass es lange gar keine spezifische Jugendliteratur gab und die Kinder und Jugendlichen, wenn sie Zugang zu Geschichten (nehmen wir mal das Wort, um orale Traditionen auch hineinzubringen) immer unmittelbaren Zugang zu “realistischen” Geschichten hatten. Was ist überhaupt “realistisch”? Heißt das, dass die “echte” Welt beschrieben wird? Ist ein Lied über den Arbeitsalltag nicht die “echte Welt”? Ist ein Märchen schon “unrealistisch”, auch wenn es verklausuliert die “echte Welt” beschreibt?

Aber mein Hauptpunkt ist: Es gab und gibt schon immer ein “breites Angebot” an männlichen Hauptfiguren, auch, und besonders, in der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Wenn ich an die Bibel denke, die – ja – viele Frauenfiguren hat, deren zentrale Akteure aber Männer sind. Wenn ich an die Ritter- und Heldensagen denke, deren zentrale Akteure immer Männer sind. Die Geschichtsbücher über die Cäsaren, Kaiser und Könige, Erfinder und Abenteurer.

Wenn ich an die ganzen Jugendbuchserien denke, die im besten Fall ein oder ui – zwei – “Quotenmädchen” dabeihaben – geschenkt! Einfach nur mal bei den populärsten Kinderbüchern von Erich Kästner durchzählen (Ich liebe Kästner, auch wenn ich gewisse Probleme sehe, kam Kästner in der Rassismusdebatte denn überhaupt vor?), wieviele männliche Hauptfiguren haben: 7 von 9. Meine Lieblingsbuchserie, “Die Kinder von Nummer 67” von Lisa Tetzner (die leider mittlerweile auch teilweise problematisch gesehen werden muss): Unzählige Jungen*, ein paar Mädchen*, auch wenn diese paar Mädchen* tragende Rollen haben. Michael Ende (auch problematisch): 3 der vier großen Werke haben cismännliche* Hauptfiguren. Harry Potter – trotz Hermione – die zentralen Figuren sind Jungen* bzw. Männer.

Geschenkt, dass es “Mädchenbücher” gibt. Genau die beschreiben oft die “echte Welt” am meisten, vermitteln die volle Gendernorm mit Mann, Kindern, Haushalt. Genauso viele Märchen. Leider. Und warum müssen eigentlich Jungen* immer Bücher lesen, in denen Jungen* die Protagonisten sind? Von Mädchen* wird immer verlangt, sich mit eben diesen Protagonisten zu identifizieren, wenn sie nicht nur “Hanni und Nanni” lesen wollen, weil die “Jugendliteratur” eben auch einen Genderbias hat.

Prinzipiell finde ich es großartig, dass gelesen wird. Es ist gut, wenn Bücher gelesen werden. Lesen, Lesespaß, Lesefreude ist wunderbar und wichtig. Ich persönlich habe meine Probleme mit dem Vorschreiben von Lesestoff bzw. welche Geschichten gehört, gesehen, gelesen werden dürfen. Ich bin dafür, dass sich die Leser*innen selbst entscheiden, was sie lesen wollen (das hab ich aber an anderer Stelle schon lang und breit ausgeführt). Aber genauso ist klar, dass ein Buch aus verschiedenen Gründen (kann ja auch langweilig, voller fachlicher oder Druckfehler oder aber eben Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus, etc sein) abgelehnt wird, von den Eltern oder den Kindern selbst, wie es immer mehr geschieht.

Für echte Lesefreiheit braucht es ein diverseres Angebot. Neue Kinder- und Jugendbücher, die sich von den Gendernormen verabschieden und auch andere Diskriminierungsformen nicht mehr weitertragen. Kinder und Jugendliche sollten als mündige Leser*innen (bzw. Medienkonsument*innen, auch wenn mir das Wort nicht gefällt) mit Mitspracherecht noch viel mehr wahr- und vor allem ernstgenommen werden.